Leseprobe – Schattenparty

Ein Roman von Claudia Roosen

Prolog

Mittags gingen manchmal die Dämonen um. Trat sie deshalb aus dem Schatten der Herz-Jesu-Kirche auf den gleißend hellen Vorplatz, mit weit ausholender Willkommensgeste? Auch dass er ihr Folge leistete, wie von unsichtbaren Fäden gezogen, sprach für eine Halluzination. Das Kopfsteinpflaster wurde zu einem biegsamen Laufband, welches ihn in Zeitlupe vorwärtsschleuste. Und sie blickte ihm siegessicher entgegen, das Gesicht wie durch den Windkanal gezogen, vergilbt wie Pergament.
Wenn sie jemals schön gewesen war, so hatte die Zeit ihr gutes Aussehen unbarmherzig karikiert. Auch er war nur noch ein aufwändiges Imitat seiner selbst, trotz Armani-Anzug und ausgefahrener Ellbogen. Seine ehrgeizigen Pläne waren nicht aufgegangen: Das Geld hatte sich neue Wege gebahnt, die an ihm vorbeiführten. Wieder lag die Macht in den Händen dieser Irren, auch wenn sie nur noch ein hohläugiges Skelett in Menschenhaut war.
Wie früher würde sie ihre Sätze parfümieren, ihr Vorhaben schönfärben und schwere Geschütze auffahren erfüllt von Sendungsbewusstsein. Sachen loslassen wie Verrat, Vergeltung, Buße, aber auch Belohnung und Profit, was ihn jedes Mal in ihren Bann schlug.
Denn sie war reich, vielleicht sogar sehr reich und verstand es seine Willenskraft aufzuweichen: als tauchte man zunächst nur die Fußspitze in ein kochend heißes Bad, zuckte zurück und lag dann doch darin, begann es sogar zu genießen.
Ließ die Sonne eigens für ihr Wiedersehen die Gehsteige weiß schimmern? Wurde die Luft über dem Kirchturm durch ein Gaukelbild der Hitze zu tanzenden, gläsernen Wellen verzerrt?
Nun bewegte sich ihr Hals wie an schlaffen Schnüren. Unweigerlich öffnete sie den Mund …

Stani beschließt zu sterben
23. März 1976

»Es ist aus. Sieht es so aus? So sieht es aus. Aus.« Kein schlechter Text für einen Abschiedsbrief, nur die Schrift war verwackelt. Stani zeichnete ein dichtes, schwarzes Gitter darüber, bis man nichts mehr erkannte und fing ein neues Blatt an. Dieser war für Ollie. »Take it easy, alter Kumpel«, schrieb er nun sorgfältiger in Druckschrift. »Du kriegst meine Stereoanlage: einen Plattenspieler, ein Radio, zwei Boxen (selbstgebaut) …«

Zögernd legte er den Bleistift hin. Konnte man ein Testament mit Bleistift schreiben? In Mutters Sekretär lag ihr goldener Füller, ordentlich in dem schmalen Lederetui. Nur sie war weggebracht worden. Es ging nicht anders: Nicht einmal mehr schminken konnte sie sich zum Schluss. Malte sich ein schmieriges Clownsgesicht. Auch dort machte sie damit weiter, weil sie schön sein wollte, wenn Besuch kam. Strich sich mühevoll an und sah doch nur aus wie eine hässliche, aufgepumpte Puppe. Er hatte ihr nicht in die Augen sehen können, sondern nur verklemmt auf den Boden gestarrt. Dann war er abgehauen, hatte sie einfach da liegen lassen mit ihrem versoffenen Gesicht. Das nicht vom Alkohol kam, denn dort gab es keinen.

Weil er das Schweinische getan hatte. Absichtlich, um sie zu ärgern. Aber dass sie davon krank wurde, hatte er nicht gewollt. Er nahm das Mobile, das er für Steffi gebastelt hatte, hängte es grob und schief über die Schreibtischlampe und zerschnitt mit einem Fahrtenmesser die kleinen Pappschiffe. Die Platte war zu Ende und gab ein eierndes Geräusch ab. Er setzte die Nadel noch einmal auf die Rille, wo sein Lieblingslied begann, wobei er vorsichtig den Lift betätigte, um den neuen Saphir zu schonen. Trotzdem erklang es leicht verkratzt, er hatte es in den letzten Stunden zu oft gehört. Den Text kannte er auswendig: Beautiful friend … – schöne Freundin. Und dass er nun nie mehr in ihre Augen sehen würde. Er beugte sich wieder über das Blatt und schrieb alles noch einmal mit Tinte ab. Es war ihm noch nicht so ernst, nur das eklige Gefühl sollte verschwinden. Stattdessen nahm es zu, wuchs zwischen seinen Rippen zu einem stählernen Dreieck an.

»Ich bin ein Schwein«, krakelte er mit dem Messer auf sein Ringbuch und verstärkte den Druck, bis das Plastik nachgab und zerriss. Dann zog er sein schwarzes Batikhemd an und darüber eine Cordjacke. Vielleicht brachte er es auch nicht und ging nur zum Beatschuppen rüber, feige wie er war. Der Luftzug der zuschlagenden Tür ließ die zerstörten Schiffchen des Mobiles leicht an ihren Fäden schaukeln. Dann standen sie still.

Sina »Schnittchen« Schnitter
1977 – 1999

Es war noch lange nicht Abend, also kein Grund zur Sorge. Sandra zog ihren Barbiepuppen die silbernen Astronautenanzüge aus und hüllte sie in Karolins seidene Einstecktücher. Dann ließ sie sie feierlich über den Tisch schreiten, wobei sie darauf achtete, dass bei jedem Schritt ihre Beine etwas umknickten, wie bei richtigen Menschen. Das Ende von den Taschentüchern zogen sie wie lange Schärpen hinter sich her. Warum auch nicht, sie waren ja Königinnen und Prinzessinnen.

Nun gingen sie zu einer großen Party, es gab auch Sekt. Sandra runzelte angestrengt die Stirn und goss etwas Limonade in die hohlen Legosteine, die als Gläser ausgesucht waren. Dann setzte sie die ganze elegante Gesellschaft um die Festtafel, für die sie eine umgestülpte Plastikschale gewählt hatte. Skipper und Barbie saßen nun mit anmutig gewinkelten Beinen und hungrig ausgestreckten Armen am Tisch, nur Fred und Ken waren zu steif, sie fielen immer wieder nach hinten. Sandra seufzte gespielt affektiert:
»Oh, Darling!«, sagte sie mit verstellter Stimme, »ist es nicht einfach bezaubernd hier?«

Sie setzte Barbie in Positur, denn sie war diejenige, die das gesagt hatte. Sandra gab Fred einen Stups und schon antwortete er mit tiefer Stimme: »Nicht so bezaubernd wie Sie, Teuerste.« Darauf konnten sie jetzt anstoßen, wenn Freds Arme nur nicht so schwer zu knicken wären. Sandra hielt das gefüllte Legosteinchen gemeinsam mit seiner Hand und versuchte, seinen Arm soweit zurückzubiegen, dass er es zum Mund führen konnte. »Prost«, sagte er jetzt mit schmelzender Stimme, denn er war ein bekannter Charmeur und Casanova. Aber Barbie konnte er damit nicht beeindrucken. Sie war dafür der Schwarm aller Männer, ihm ebenbürtig.

Erschrocken sah Sandra, dass Barbies Taschentuch heruntergerutscht war und sie jetzt halbnackt, mit glänzendem Plastikbusen an der Tafel saß. Schnell nahm sie sie weg, um sie neu anzukleiden. Fast echt sah ihr Körper aus, wie der von einer richtigen Frau. Zaghaft strich Sandras Zeigefinger über die kühlen Rundungen. Dann hatte sie eine Idee, es war aber etwas Verbotenes. Fieberhaft begann sie, ihren Tornister nach einem rosafarbenen Filzstift zu durchsuchen, fand aber nur einen blauen. Einen Moment zögerte sie, dann griff sie entschlossen nach dem Puppenkörper und malte in die Mitte jeder Plastikbrust einen kreisrunden Punkt. Man sah es kaum, sie musste den Stift stärker aufdrücken. Nun wurden die Brustwarzen immer größer. Je größer sie wurden, desto mehr war Barbie blamiert.

Sandra war komisch zumute, leicht und schwer zugleich. Versunken in ihre Tätigkeit nahm sie kaum wahr, wie die Schatten im Zimmer länger wurden. Sie dachte sich nun neue Spiele aus, andere Spiele, von denen keiner wissen durfte. Als sie endlich wieder aufsah, schwindelig von all der darauf verwandten Konzentration, waren die Laternen im Innenhof schon angegangen. Doch Sina war immer noch nicht zurück. Sandra ließ die gesamte Partygesellschaft in dem Puppenkoffer verschwinden. Es war noch gar nicht so dunkel. Sie konnte ihre Rollschuhe anschnallen und auf dem Hof herumfahren, dann sah sie Sina gleich, wenn sie kam.

Draußen war es kühler geworden, die Straße fast leer. Alle anderen Kinder waren längst im Haus. Michis orangefarbener Hopsball lehnte noch an einer Häuserwand. In der einbrechenden Dämmerung sah er fast lebendig aus, seine Gummihörner schaukelten leicht im Wind. Während sie versuchte, das verknotete Schnürband zu lösen, fiel ihr auf, wie verschrammt ihre Knie waren. Es machte sie stolz. Mit den Rollschuhen war sie fast so groß wie Sina. Sie nahm ziemlich stark Anlauf und ließ sich dann über den Asphalt gleiten. Schön, wenn die Straße so frei war. Vor der Kurve bremste sie scharf, denn sie hatte im Rinnstein eine Murmel entdeckt. Sie hob sie auf, hielt sie in das Laternenlicht und bewunderte ihr schillerndes Grün. Wenn sie morgen Michi zum Gummitwist spielen traf, tauschte sie sie vielleicht gegen eine von ihren Pferdekarten.
Sie konnte ruhig noch ein Stück weiterfahren bis zu den Andergasts. Dort brannte schon Licht. Das ganze Haus war erleuchtet, aber trotzdem nicht hell. Es war grün, es war rot, fast wie in einer Diskothek. Feierten die denn schon wieder ein Jugendfest? Neugierig rollte Sandra näher und sah dann etwas, das sie sehr erleichterte. Einen Moment lang war ihr ganz verschwommen vor den Augen vor lauter Erleichterung. Da war nämlich Sin.

Sie stand mit Frau Andergast in der Einfahrt, wo die Kieselsteine lagen, und unterhielt sich ganz erwachsen mit ihr. Nun knirschte der Kies, sie gingen scheinbar ins Haus. Ob sie Sina noch schnell etwas zurufen sollte? ›Ich hab’ nichts verpetzt‹, damit sie das wusste. Aber sie wusste auch so, dass auf sie Verlass war. Jetzt kamen die knirschenden Schritte näher, der laue Vorfrühlingswind trug auch die Stimmen herüber. Sandra konnte Frau Andergast ganz deutlich lachen hören, sah sie aber nicht. Nur noch einen Zipfel ihres langen grauen Mantels, ehe sie im Haus verschwand. Sina schien ihr nicht gleich zu folgen, sie blieb an der Treppe stehen und sah auf den Boden. Weiß leuchtete das T-Shirt mit der roten Filz-Hand in der Dämmerung. Schade, dass sie es so selten verlieh. Sandra wollte sich gerade umwenden, um nach Hause zu rollen, da zerschnitt Sinas Stimme die Abendstille. Sandra erkannte sie nicht sofort, sie klang irgendwie klarer und höher als sonst.

»Aber das kann ich nicht, oder?«, sagte sie. »Ich kann das doch nicht tun.«

Sandra erstarrte und lauschte in das nun eintretende Schweigen. Ihre Beine zitterten leicht, als sie angestrengt versuchte die Rollschuhe stillzuhalten. Was hatte das zu bedeuten? Jetzt war Sina doch in dem Haus verschwunden und das Licht in der Empfangshalle ging an. Sandra atmete auf, als alles so hell wurde. Komisch, dass man im Dunkeln so oft an traurige oder schreckliche Dinge denken musste und sie bei Licht gleich wieder vergaß. Sogar der Gehweg war nun beleuchtet. Sie würde schon mal nach Hause fahren, um ein besseres Versteck für die Barbie zu finden. Die Flecke hatten sich gar nicht abreiben lassen, waren nur hässlich verwischt.
Schwungvoll hatte sie jetzt die Kurve genommen, schade, dass Michi sie nicht sah. Zu Hause brannte auch schon Licht. Was sollte sie nur sagen wegen Sin? Sandra fuhr noch ein paarmal im Kreis, um den Augenblick des Gefragtwerdens hinauszuzögern. Es war schon gut, wenn alles so leer war, da gehörte einem ja praktisch die ganze Straße und der Innenhof dazu. »Kann-das-nicht, Kann-das-nicht«, sang sie mechanisch vor sich hin und ihre Rollschuhe rollten im Takt dazu. Vor der Haustür stockte sie und das unangenehme Gefühl vom Nachmittag überfiel sie wieder: »Also wirklich, Sina«, sagte sie laut und streng, als wenn sie mit ihren Puppen schimpfte.
»Langsam könntest du nach Hause kommen!«

1999

Der beste Abend seit langem. Sie war immer noch unglücklich, doch es kam ihr wie ein glücklicheres Unglück vor. Und nun zeigte ihr der Wandspiegel das Aussehen, das schon verloren schien. Vielleicht musste man es nur wirklich aufgeben, dann kehrte es zurück: unversehrt aus Asche und Staub. Unter dem Fenster glommen bunt die Lichter der Stadt, wie Lampions auf einer Gartenparty. Sie schaute wieder mal von ferne hinein: ›die geheimnisvolle Fremde.‹ Und fand es gar nicht tragisch ein wenig abseits zu stehen. Der Nachtverkehr warf seltsame Schattenmuster. Ein Windspiel aus Papier fiel ihr ein, das nur einen Sommertag überdauert hatte. Denn sobald der Regen einsetzte – sie drehte fahrig am Radio. Jemand anderes hätte sie vielleicht nach Hause gefahren, doch Förmlichkeiten lagen ihm fern.
Dafür konnte er so komisch sein. Und er kannte die Menschen. Kannte demnach auch Grenzpersonen wie sie. Die nicht im Alltag aufgingen und sich etwas überlegen mussten. Darum auch selbst nicht dumm fragten, was ihm nur recht sein konnte. Die Stirn an die Scheibe gelehnt, erwog sie die Vorteile einer solchen Beziehung und ihr Glaskonterfei starrte ausdruckslos zurück.Zumindest hatte er sie zu nichts gedrängt. Kleine Helfer war sie schließlich längst gewöhnt, aber nicht dieses Kaliber. Verschlagen war sein Blick gewesen und auch ängstlich, was sie gleich wieder für ihn eingenommen hatte:»Du bist irgendwie süß. Und gefährlich in einem.«

»Klingt nach Friedhof der Kuscheltiere.«

Sein zitronensaures Lächeln! Wollte er ihr mehr bedeuten? Sie spürte ein Prickeln. Man dachte ja so oft zu spät und dann war doch wieder ein schöner Abend und man ging noch etwas weg und lachte und flirtete. Nächte wie diese schienen eigens erfunden, um sie zu retten. Ihre Haut leuchtete dann im Halbdunkel der Bars und ihre Pupillen weiteten sich. Er war bereits der zweite gewesen, der ihr Champagner ausgab. Die Kellner freundlicher, ihre Mienen weniger eisig, das leere Glas, an das sie sich geklammert, längst abgeräumt. Sie hatte den Drink in Richtung Spender gehoben, sein Gesicht starr wie ein Abziehbild und nur durch das wechselnde Licht mechanisch bewegt. Doch sein Blick – ach, sein Blick! – gefiel ihr.

Erhitzt vom Tanzen waren sie sich später erneut begegnet und ihr Hochgefühl hielt an. Sie ging nur scheinbar an ihm vorbei. In Wirklichkeit hätte sie ihn fast umgerannt mit ihrem strahlenden Lächeln. Kurz darauf saßen sie dann schon gemeinsam an der dämmerig-verspiegelten Bar und sie trank sogar ein Bier mit, welches sich mit den Psychopillen in ihrem Magen aufs Angenehmste vermischte.

Eine Prise Schwermut konnte sie sich ruhig leisten, danach die Tablette und das Bett schwebte davon. Im Radio spielten sie jetzt melancholische, alte Schlager: ›Arrivederci Hans … das war der letzte Tanz …‹
Allmählich begann sie in ihm etwas zu sehen. Das Kleid war dünn für die Jahreszeit, kalt lagen die Pailletten auf der Haut. Sie hängte es auf einen Drahtbügel und stülpte einen Plastikschutz darüber. In einen bequemen Hausmantel gehüllt, setzte sie ihren Streifzug durch die Wohnung fort, welche herumliegende Kleidung in einen unordentlichen Schauplatz verwandelt hatte. Doch sie fühlte sich noch zu angeregt, um aufzuräumen. Also ging sie vor dem Kühlschrank in die Hocke und sah eine Weile in sein summendes Innenleben.

Oder war das Surren in ihrem Kopf? Nun löffelte sie schon länger im Mayonnaise-Glas, rasch landete es wieder im hinteren Regal. Im Klappfach warteten die Schlaftabletten, doch das Verlangen blieb bestehen. Ihr Lippenstift franste aus und Fett lief ihr über Kinn und Hals, als sie die Hähnchenkeule und den kalten Nudelauflauf verschlang. Vertraute Übelkeit nahte, aber sie war noch nicht müde. Also riss sie noch die Folie von dem grellbedruckten Doppelpack Vanillecreme. Von beiden Bechern, der Einfachheit halber. Die Lichter der Stadt erloschen eins nach dem anderen, ein paar glühten jedoch weiter, nun trüber geworden, zum Fenster hinein. Es war zwei Uhr, Frank Sinatra sang Angel Eyes, und sie schaffte es gerade noch ins Badezimmer.

Das alte Blauauge verfolgte sie bis in den Schlaf: ›Need I say, that – my – love’s – mis – spent‹, trällerte es schleppend nach, auch als das Radio längst ausgeschaltet war. Ihr Körper wurde nachgiebig, was sie denken wollte, entglitt. Sie schaute noch ein wenig auf die Wand, wo sich die Schatten wieder trafen: Das Leben … spielte sich an einem Abend ab. Das Leben war nur ein Abend! Der künstlich erzeugte Schlaf spülte sie wie leichtes Treibgut an das Ufer des Jahres 1977, direkt vor Tante Vlaskas Haus.

Es war einer dieser Abende. Roxy und Carmen tanzten den Spiegeltanz. Sie bewegten sich synchron zueinander und trugen Mini-Kostüme zu hochhackigen Jeansstiefeln. Das Bewusstsein zu träumen war blass noch vorhanden und sie prüfte die Szenerie mit der Gewissenhaftigkeit eines Zeitreisenden. Täuschend echt waren die Kulissen nachgebildet. Dort erstreckte sich der endlose Esstisch mit der dunkelgrünen Samtdecke und den spielenden Silberkätzchen als Tafeldekoration. Sie stieß sich fast den Kopf an einem ausgestopften Elch, einer von Onkel Arnolds Jagdtrophäen. Schwerelos wie ein Astronaut taumelte sie vorwärts, die gläserne Schwebetreppe hinauf, in den Raum mit dem schwarzen Klavier, aus dem die Partymusik drang. Da war ja auch Kiki und tanzte Blues mit einem von der Rainbow-Clique! Aber es war eigentlich kein langsames Lied, war der Plattenspieler verstellt? ›They call me … la-dy bump … la-dy bump‹, dröhnte es scheppernd aus der blauen Glasmuschel und Chrissie erschien. Oder jemand, der aussah wie sie. Wie ein Negativ stand sie in der violetten Discosonne. Gleichzeitig erlosch die Musik und das gleißend helle Licht in Tante Vlaskas Empfangshalle ging an …

An einem verregneten Tag gegen Ende der Woche traf sie Hardy erneut. Die Tage wurden wieder etwas länger, doch in dem verabredeten Lokal herrschte bereits schummerige Abendstimmung. Zwischen fensterlosen Wänden, die das Tageslicht fernhielten, befand sich ein schlauchartiger Vorraum, den Bar-Möbel aus dunklem Eichenholz säumten. Er war rustikal eingerichtet, nur die Graffiti auf den abgeblätterten Tapeten bewahrten ihn davor bieder zu wirken. Hinter dem Tresen agierte lässig ein Kellner, das gelbe Licht schien auf seine unbewegte Berufsmiene und die sehnigen Arme. Unruhig suchte sie nach Hardy und bereute, so früh losgegangen zu sein. Warten hatte sie schon immer gehasst: Die Knochen wurden davon hohl und leicht, wie mit irgendeinem Gas gefüllt. Sie sah zum Eingang, den ein großer, batteriebetriebener Filzaffe schmückte. Man hatte ihn unnötigerweise in einen blauen Käfig gesetzt, wo er über bunt gefüllte Plastikblasen wachte. Von Zeit zu Zeit schallte aus seiner Richtung ein mechanisches Gackern, das jetzt von den einsetzenden Techno-Rhythmen verschluckt wurde. Jugendliche standen in Gruppen zusammen, unförmige Zigaretten rauchend. Einer modischen Laune folgend, hatten sie sich wie Hippies gekleidet.

Sie ging weiter durch, streifte Patchwork-Pullover und Fransenjacken. Wie alles wiederkehrte! An einer wild gemusterten Schwarz-Weiß-Wand stand eine Frau, die sie vom Sehen kannte. Heute hatte sie der Zufall dichter zusammengetrieben und sie registrierte vage erschrocken, dass sie anders aussah als gedacht. Auch die auffällig toupierten Haare waren aus der Nähe fein wie Spinnweben, boten dem kitschigen Strass-Kamm kaum Halt. Trotz ihrer offenkundigen Gefallsucht war sie wie immer allein. In der halbblinden Thekenspiegelung prüfte Sina ihr Gesicht, aber zum Ausbessern war’s zu spät. Denn im Inneren des dunstigen Glases sah sie Hardy, der sich gerade einen Weg durch die Menge auf sie zu bahnte. Er zwinkerte ihr zu, träge amüsiert, als wüsste er selbst nicht, was, außer ihrem Vorschlag, ihn in dieses Lokal verschlagen hatte. Als käme er von einer anderen Party, wilderen Party, wo es wesentlich lockerer zugegangen war.

»Hola, Miss Schnitter, alles gut?«

Er trug Schuhe mit Absatz und einen langen, hellen Tweed-Mantel, der bei ihrer Begrüßung leicht scheuerte. Unter seinem ausdruckslos beharrlichen Blick hörte sie sich gleich naiv ausführlich antworten, als wäre die schlichte Willkommens-Floskel ein ernstgemeinter Appell, das Herz auszuschütten. Ihre Fehler der letzten Zeit ließen sich plötzlich gut in Worte fassen: Versäumtes, Verschobenes, nagende Selbstzweifel und dann die plötzlichen Stimmungsumschwünge, die wie eine schwarze Faust in ihr Leben griffen und alle Freude herausrissen. Weil Hardys Aufmerksamkeit sich nicht erschöpfte, sprach sie auch über ihre uferlose Langeweile an Werktagen und hielt im letzten Moment zurück, dass es für sie ja eigentlich keine Werktage waren:

»Gegen Abend geht’s mir dann aber meistens besser.« Wenn sich die freundlich-gleichgültige Nacht auf all die geschäftigen Wichtigtuer senkte.

»Vielleicht solltest du dich mal richtig betrinken.«

»Das schwemmt doch nur auf.«

Recht bedacht, war es einzig diese simple Tatsache, die sie von einem täglichen Vollrausch abhielt. Sie standen nun vor einem Spielautomaten und sie sah zu, wie die Silberkugel in mühelosem Zick-Zack durch das leuchtende Mini-Labyrinth schnellte.

Dann sammelte Hardy den Münzsegen ein, den die Maschine in die Schale spuckte: »Ich hör deutlich: Du brauchst ’ne kleine Freude.« Er kramte in seinem Mantel und förderte ein unscheinbares Glasröhrchen zutage: »Macht garantiert nicht dick. Und du kommt mal aus dem Film raus.«

Wie auf ein unsichtbares Stichwort schoss nun ein schwarzer Hund unter einem der Tische hervor und knurrte zähnefletschend in ihre Richtung, als hätte er eine plötzliche Vision. »Es ist dein roter Schal«, klärte sie sein Besitzer, der ihn nun am Halsband zurückhalten musste, auf. »Carlo ist nämlich Spanier und reagiert darauf wie ein wilder Stier.« Sina lachte matt, den Schreck noch in den Gliedern: Wie ein Schakal hatte das Tier gegrollt, die Augen wie glühende Kohlen und die Umstehenden lachten jetzt wie Hyänen. Nur Harry schien das lärmende Intermezzo desinteressiert zu verfolgen. Seine Hand war dem Mitbringsel treu geblieben und rollte es nun spielerisch auf dem Tresen hin und her: »Du wärst präsenter, wie gesagt!«

Sie dachte an sein Angebot von neulich und zögerte: »Es ist doch nichts Hartes?«

»Reine Homöopathie. Wirkt schon, wenn du nur dran riechst.«

Ein Hocker wurde frei und sie nahm zögernd Platz: »Ich möchte nur keinen Kollaps kriegen oder bewusstlos werden.«

Sein Blick wurde schmal: »Sind wir das nicht alle?«

Nun trafen sich ihre Augen, seine dunkel umschattet. Sie mochte Menschen, die sich nicht schonten, ließ ihnen im Grunde gern das letzte Wort.  Vielleicht durfte man sich nur nicht einreden, dass etwas schadete. Vielleicht war man ohnehin nicht zum Glücklichsein auf der Welt, war hier, um unglücklich zu sein, sich in die Falschen zu verlieben, und um zu sterben. War sein Blick abwesend oder sehr durchdringend? In dem diffusen Licht war das kaum zu erkennen.

»Das Rezept ist von einem Schamanen.« Er formte ein seltsames Zeichen mit abgespreizten Fingern, welches seiner Hand Hörner verlieh: »Es ist nur ein kleiner Schritt nach links.«

Nach links? War es am Ende nur ein Gedankenspiel? Sie lachte: »Und wenn dieser geradewegs in den Abgrund führt?« Ein nostalgisches Gefühl überfiel sie, als hätte sie diese Situation schon einmal durchlebt und erhielte nun eine neue Chance: »Schlechte Ratschläge brauch’ ich nicht. Ich hab’ sie meistens längst befolgt.«

Wie um ihre Worte Lügen zu strafen, bestellte sie noch ein Mineralwasser und er drückte die Zigarette aus: »Man muss nur wissen, wann Schluss ist.« Und womit: Enttäuschend schal prickelte die Soda an ihrem Gaumen. Erst jetzt merkte sie, wie verkrampft sie die Beine übereinandergeschlagen hatte und löste sie aus ihrer gegenseitigen Umklammerung. Blau jetzt auch die Anzeigen auf allen Displays: for amusement only. Kurz darauf griff sie zu Hardys Arznei.

Sie spielten nun alte Lieder von The Sweet, ein Mädchen mit langem Schlauchrock balancierte auf hohen Plateausohlen an ihren Tisch und servierte bläuliche Cocktails, mit Orangenscheiben und Pappschirmchen garniert. Hatte er das bestellt? Orangerot leuchtete sein Hemd. Das Grün des Affenkäfigs war zum Weinen schön. Noch nie hatte sie Farben so fühlen können. Nur ihr Gesicht spürte sie plötzlich nicht mehr.
Ein Schamane und chinesische Pilze? Die Herkunft war ihr im Grunde gleich. Denn plötzlich war sie dem Glück so nah, wie eine schöne Seifenblase schillerte es vorbei: »Das ist das Leben hier, oder? Alles hier!« Darauf schnitt er eine Grimasse. Tat Dinge und man konnte ihm nicht böse sein dafür. Weil er ein Spiel mit der Welt spielte, abgekartet, nach eigenen Regeln:

»Nicht wahr, du kommst von weit her?«

»Eigentlich gerad’ mal aus der Nachbarschaft.«

Richtete das Mittel den Blick nach innen? Dort tat sich eine schwarze Kluft auf, darüber Hardys Gesicht, das leise scheute. Sie hatte wieder eine Eingebung:
»Auch da gibt’s vielleicht geheime Orte, die man nie erreicht.« Oder besser nicht besuchte. Doch er schnippte ihre Idee weg:

»Ist mir jetzt zu hoch.«

»Aber ich unterhalt’ mich so gern. Ist es nicht wunderschön, sich zu unterhalten?« Daraufhin seufzte er. Das taten sie oft, wenn sie überspannt wurde und sie liebte diese überlegene Art.

Die Luft wurde immer drückender, der ganze Raum war irgendwie überheizt. Schmalhüftig war nun ein blonder Junge am Tisch vorbeigeglitten, die Jeans hinten gekonnt zerrissen. Jetzt verschwand er in einem der hinteren Gänge, wohin die wohl führten? Sie spürte etwas von ihrem Überschwang weichen und spielte mit einem gelben Cocktailschirm: »Ich weiß noch, wie ich damals meine Jeans zerfetzte.« Sie bog das kleine Gestell, bis die dünnen Stützen knacksten. »Sogar mit einem Bimsstein nachhalf, damit sie schön abgewetzt aussahen.«

»Und dann hast du sie im Liegen angezogen und mit der Zange den Reißverschluss hochgezerrt.« Hardy fuhr spöttisch fort, aber die Musik war zu laut. Diese muntere, aufgeräumte Art und dann seine leeren, ausgebrannten Augen! Sah man nicht direkt hinein, schien er der liebenswürdigste Mensch auf der Welt zu sein. Es war gar nicht mehr so warm, hatte jemand die Tür geöffnet? Oll mussten sie aussehen: Sie und Carmen gingen mit ihren Jeans ins Meer, damit das Salzwasser die Farbe bleichte. Sammelten Seesterne, die sie abends präparierten. Man konnte auch Mandarinenschalen nehmen, sternförmig abgepellt und getrocknet sahen sie fast genauso aus. Am Strand fanden sie das Kätzchen, nahmen es manchmal mit in den Club. Dort war ein alter Herr mit einem gezwirbelten Schnurrbart, ein Don. Und die livrierten Pagen rissen immerzu die Tür auf. Es gab Trinkschokolade, heiß und dick, gar nicht wie Kakao. Klirrend landete jetzt ein Gedeck vor ihr: »Zweimal Irish Coffee!« Monoton klang das, laut und fern zugleich. Wie Ausrufstimmen in Wartehallen, wenn noch Passagiere fehlten. All diese Schlaghosen! Ihre Augen begannen zu brennen. Und bunten Muster: Auf dem Flug trug sie ein gelbes Kostüm mit weißen Tupfen und sie waren erst spät angekommen in – Biarritz? »Alles ist genau wie früher, Hardy!« Ihre Stimme hallte.

»Das hoffe ich nicht.« Warum klang er so bitter? Er sprach von so weit. Es war Marbella. Selbst nachts wehte ein warmer Wind und sie liefen noch zum Strand. Tante Vlaska wartete im Haus und wollte nicht allein trinken. Sinas Kaffee war noch unberührt, gesprenkelte Sahne auf dunklem Grund. Wie leicht man eintauchen konnte in den schwarzen Tunnel der Vergangenheit …
›Nur noch ein Glas, Püppchen. Sei wie ich!‹ Damit man sie wieder mit in den Club nahm. Damit sie das Kätzchen behalten durfte. Damit Tante Vlaska nicht –

Wenn ich es das nächste Mal tue, verscharre ich mich in den Büschen und niemand wird mich finden. 

Die Erinnerung war sie plötzlich aus dem Nichts angesprungen. Sie spürte ein Kribbeln in allen Gelenken, als wären sie eingeschlafen. Eine Frau mit Tuschrändern unter den Augen kam jetzt schwankend an den Tisch, Hardy so stürmisch umarmend, dass die Barlöffel auf den Untersetzern bebten. Sie sah den beiden weiter zu, taub nippte ihr Mund am Tassenrand. Nun flüsterte sie ihm etwas ins Ohr, was sie wohl miteinander beredeten? Hardy tätschelte ihr beschwichtigend den Rücken, an seinem kleinen Finger glänzte ein Ring.

»Du hast es versprochen!«

»Versuch’s doch mal ohne!«

Warum half er ihr nicht weiter? Sie flehte ihn doch so an. Unter ihrem dicken Makeup hatte sie den Verliererblick eines ausgestoßenen Kindes. Er schob sie jedoch weg und sie torkelte allein weiter zur Bar. Neben ihr zischte Hardys Streichholz auf: »Der wollt’ ich eigentlich nicht begegnen.« Sinas Taubheit wich einem nervösen Koffein-Glück: »Sie braucht vielleicht Hilfe«, sagte sie weitherzig.

»Ich vertick’ aber keine Tütchen. Solche Klecker-Deals versauen doch nur den Ruf.« Er lächelte entwaffnend nett, nur sein zerstreut ausschweifender Blick verriet Unlust.

Draußen war jetzt auch die Dunkelheit hereingebrochen. Der Regen hatte ausgesetzt, aber die Luft war noch feucht. Eine verkrüppelte Taube, die auf dem flachen Verdeck ein einsames Picknick hielt, flatterte aufgescheucht davon.

»Dass sie sogar Irish Coffee hatten!« Sina folgte ihm aufgeputscht zum Wagen. »Irgendwer muss die doch beraten, irgendein Original-Hippie von früher!« Stand im Hintergrund und wusste alles noch.

»Na klar, so’ n Freak, der jeden Satz mit du anfängt.« Hardys Pupillen streiften gelangweilt die stille Straße ab, man konnte sie von der Seite wie unstete Murmeln zucken sehen.

»Erzähl doch mal was, einen Schwank aus deiner Jugend.«

»Du musst dir den farbigsten Grauton denken, dann hast du meine. Ich war ein Model in Paris.« Lag’s an der Betonung? Es blieb eine lügenhafte Schwebe zurück.

»Hört sich ja nicht gerade trist an!«

»Das arme Kellerkind war ich ja auch vorher.«

Guckte man nicht direkt, mehr aus dem Augenwinkel, konnte man es daumengroß übers Lenkrad stöckeln sehen. Es lief noch ein Stück weiter an den Scheibenwischern vorbei seiner fernen, und doch vorbestimmten Zukunft entgegen und löste sich dahinter in Abendluft auf. Es ist over, sollte sie später sagen, es jedem gegenüber wiederholen, wie einen dunkel aufgeschnappten Trost. Längs vom Bordstein gingen jetzt die Laternen an. Ihr Licht war matt, respektierte schon die nahe Nacht. We had joy, we had fun, leierte in fernem Protest ein vergessener Singsang. Und das Kellerkind streifte noch mal geisterhaft die Scheibe, haushoch, mit triumphierendem Profil. Wem wollte es bloß imponieren in diesem dummen Flatterkleid? Die Antwort trieb schon in ihren Gedanken, da machte es plötzlich Klick: Paris hatte sich dazwischengeschoben, unvermittelt wie ein Dias-Trick. Und darin lebte Sina Soundso. Sie saß auf dem Fenstersims einer Hotelsuite und trank abwechselnd roten und weißen Martini. Sie sprach im Bain Douches mit Bekannten und prostete dabei freundlich einem Fremden zu. Sie tanzte charakterlos lächelnd zu psychedelischer Musik. Und trug dann Schminke nach, in dem verschlissenen Vorraum, umhüllt vom strengen Raubtierduft der Nachtschwärmer. Abgerutschte Rundbürsten kratzten seitlich, von hinten drängten Lurex, Nylon, Samt. Doch sie stand ganz ruhig dort und klopfte sich immerzu Glanz auf den Mund.

»Also mir wäre das zu anstrengend gewesen.« Hardy strich ihr leicht über den Arm: »All die Mittelchen, die sie einem drauftupfen, vor den Aufnahmen …« Wieder verlieh die Schadenfreude seiner Stimme Sinnlichkeit. Sie sah hinaus in die schattig gepflasterte Leere: »Weißt du, wie das ist mit dir?«

»Nein, aber ich erfahre es jetzt.«

»Als wenn ich mit jemandem telefoniere, und denke, es ist ein Überseegespräch, doch in Wahrheit steht er im Nebenzimmer.« Und sie müsste nur hinübergehen, dann wäre der Schwindel aufgedeckt.

Diesmal konterte er nicht und begann sie stattdessen zu küssen, sein Gesicht nur noch ein Schatten im Gegenlicht. Sie machte sich kurz von ihm frei: »Dieses andere Zimmer, Hardy …«
Seine Stimme wurde wieder neckend dunkel: »Ich seh’ keine Wand, siehst du eine?«

In Liebesdingen war sie ein Automat. Man gewann sie oder verlor sie in dem Ausmaß, in dem die Vorlieben, auf die sie programmiert war, bestätigt wurden. Doch wenn es vorüber war, wirklich vorbei, wurde sie immer so aufgekratzt. Sie wusste gar nicht, was sie zuerst tun sollte und die Einfälle überstürzten sich: »Gehen wir noch was essen?« Oder tanzen, bei Klaviermusik und Kerzenschein. Und er fand Spaß daran, die ganze Bar zu mieten. Den Pianisten gleich mit: ›Spielen Sie’s noch mal, tausendmal. Für meine – Geliebte?‹ Nicht wirklich. Dann gab’s ein Essen, ein Mitternachts-Dinner, und die Blamage war perfekt. Denn sie wusste gar nicht, wie man Austern aß. Sie streifte die schwarze Satindecke ein Stück ab:
»Oder ganz groß aus?« Er grinste:

»Wie wär’s stattdessen mit ’nem Butterbrot?«

»Aber nur mit Trüffeln, weißen Trüffeln!«

Konnte man so unternehmungslustig und müde zugleich sein? Von Weitem sah sie Menschen klarer. Doch jetzt war sein Gesicht wieder verschwommen nah:»Komm schon, ruh dich aus!« Ihre Lider flatterten. »Mach die Augen zu! Ja, so … das wird dir guttun.«

Und wirklich schlief sie auf der Stelle ein. Im Traum wechselten Zeit und Raum. Sie befand sich in einem großen Kaufhaus, das sie nie zuvor betreten hatte, obwohl es unweit ihres Wohnviertels lag. Alle Auslagen waren bunt gefüllt mit Lebensmitteln und sie lief ziellos und gierig zwischen ihnen umher, um etwas für das geheime Essfest zu kaufen: Ketchup, Nougat, Krabbenpizza. Doch als sie danach griff, verschwammen die Etiketten und es waren nur Schaupackungen. Enttäuscht wollte sie gehen, da sah sie die Attraktion: ein künstlicher Ritter, der Arme, Beine, Kopf und Mund bewegen konnte. Angelockt durch eine Bewegung, kam er nun eckig näher, die Lippen zu einem blechernen Gruß geteilt. Er war jedoch an Kabel angeschlossen und durfte ihren Einflussbereich nicht verlassen. Da wurde sie von heftigem Mitleid erfasst und sie küsste das kalte Gesicht und umarmte den harten Körper. Jetzt fielen die Warenattrappen aus den Scheinregalen, und es war wie auf einer Bühne, wenn man durch eine veränderte Einstellung des Lichts plötzlich die Kulissen sieht. Die führten eine durchscheinende Empore hinauf zu Tante Vlaskas Zimmer. Entsetzt wollte sie die Menschmaschine loslassen, aber die steife Kreatur hielt sie fest umfangen: Hab’ ich dich, Püppchen, tönte es nun aus allen Ecken, hab’ ich dich?

Sie hörte ein monotones Rieseln, war in einer grauen, luftigen Zwischenzone. Dort befand sich eine Stufe und auf ihr lag eine längliche Stange. Jemand Schemenhaftes hob sie prüfend auf und warf sie wieder weg. Ein anderer Passant wiederholte die Geste. Rötliche Helle breitete sich aus und sie trieb ihr ahnungsvoll entgegen. Hatte sie’s doch gewusst, dass sie nur träumte! Und das Rieseln war das Prasseln der Dusche gewesen, welches weiter aus dem Nebenraum herüberplätscherte. Von Hardys Gegenwart beurlaubt, war der Raum schutzlos der Morgenfadheit ausgesetzt. Erste Sonnenstrahlen fielen durchs Fenster, täuschten Wärme vor. Doch es war noch nicht wirklich warm.

An der Wand war achtlos ein Kunstdruck aufgehängt und sie nahm ihn gleichgültig in Augenschein. Früher hatte sie einmal ähnlich gemalt: Pflanzenfrauen, die sich in einem gespenstischen Dickicht wilder Blumen verfingen. Auch hier hob sich urwaldhaft vor hellem Himmel eine dunkle Wand pflanzlicher Formen, die wie aus Blech ausgeschnitten schienen. Zwischen ihnen bewegten sich seltsame Wesen und unter dem trügerisch lächelnden Abendhimmel wuchs drohend eine Welt des Bösen hervor. Nun wusste sie den Traum wieder, auch unbedeutende Einzelheiten: der Elchkopf, die Kätzchen, grüner Samt, und sie selbst, wie sie damals war. Doch dann hatte sich die Szene gewandelt und sie war jemandem begegnet, einem Schauspieler. Die Bildfiguren schienen jetzt zu tanzen, korallenartig, insektenhaft. Am unteren Rand stand blass der Name des Künstlers. Mechanisch, in einer eher sinnlosen Anwandlung, setzte sie sich auf, um ihn zu lesen.

»Guten Morgen! Auch im Namen meiner Mutter.« Hardy stand plötzlich im Türrahmen. »Deren Goldkind du bist«, alberte sie zurück, doch die Vertrautheit kam ihr geliehen vor. Schon in Straßenkleidung ließ er sich in einen ledernen Schaukelstuhl fallen:

»Die meinte immer, ich hätte nur Dolce Vita auf dem Schirm. Dass ich die Schule geschmissen hab’, war zu viel für sie.«

»Und warum tatst du’s?«

»Ich hatte ein paar gute Ideen und mir damit einen Namen gemacht. Mehr, als es ein richtiger Job je geschafft hätte.«

»Dafür ist sie heute stolz, wett’ ich.« Sein Schweigen ließ sie den Witz zu Tode reiten: »Zeigt überall Fotos rum von ihrem tollen Sohn vor dessen tollem Haus …«

»Geschenkt!«

»Das versteh’ ich nicht.«

Die Hände über dem Bauch gefaltet, wippte er wehmütig belustigt vor und zurück: »Ich fürchte, das ist dir erspart geblieben.«

Warum fürchtete er das? Sie sah aus dem Fenster: schräggewehte, kahle Bäume. Ein paar Schwalben flogen im Sturzflug vorbei. Ist es nicht, Hardy. Und doch, zuerst kann man noch wählen. Was bieten Sie, Herr Gittes? Nicht, dass ich es unbedingt nötig hätte. Denn im Grunde ist es mir egal. Schmuck ist mir egal und Kleider und Reisen und Möbel und Autos.

»Du redest davon, was man für Geld tun würde. Wie weit jemand zu gehen bereit ist.«

»Manchmal muss man seinen Stolz eben hinunterschlucken. Oft ist das der einzige Weg die soziale Leiter hinaufzuklettern, seine bescheidene Herkunft hinter sich zu lassen.« Er sprach hohl und theatralisch, fast hätte sie’s wieder für Spaß gehalten. »Soll ich’s dir erklären?« Er sollte lieber nicht weiterreden, ganz gleich, was er meinte.

»Du gründest eine Briefkastenfirma. Heuerst ein paar Jungs an, die nicht einmal besonders helle sind. Lässt sie im Börsensaal vorgefertigte Phrasen dreschen, das Blaue vom Himmel versprechen, gemeinsam mit den anderen jungen Geld- und Adrenalinjunkies. Ehe du dich versiehst, hast du ganze Aktienpakete an eine Flut leichtgläubiger Kleinanleger verkauft, schmeißt unglaubliche Partys und kurvst im Helikopter am Horizont herum. Die Welt wird zum Spielplatz, du hast richtig was am Laufen und bist der Mittelschicht entkommen. Zeitweise, denn trotz Kohle ist man bei dem Lebensstil ständig pleite. Und niemand kann vorhersagen, ob eine Aktie steigt, sinkt oder sich seitwärts entwickelt. Meine krachten glorreich in den Keller.«

Er fuhr fort, als wäre dieser unliebsame Nebeneffekt nur Teil einer mäßig amüsanten Bildfolge in einem alten Film: »Dann stellt sich jemand quer, du bist sowieso schon entfernt sauer. Und man gerät in eine Kettenreaktion. Hast du je Muffe vor dir selbst gehabt?« Nun fixierte er sie wieder, einen kleinen, fanatischen Funken im Auge. »Das eigentlich Kaputte geschieht auch mehr aus Sorgfalt: als wenn man ein Bier austrinkt, damit kein klebriger Rest bleibt.«

»Bist du denn immer noch Börsenmakler?«

»Deals sind mein Ding, mitunter auch noch an der Börse.«

Ihr Herz klopfte leicht: »Jetzt klingst du wie ein Dealer.«

»Schreib mir jeden Monat zwanzig Riesen auf den Gehaltscheck und ich schmeiß das hier hin.« Sein foppendes Lächeln ließ immer noch Spielraum, es als Witz zu deuten und sie hörte sich nervös auflachen.

»Du meinst, ich will dich verladen?«

»Du hast schon einen komischen Humor.«

Seine Stiefelspitze erreichte den flachen Tisch, kippte ihn kurz in die Schräge. »Nicht wahr? Und das Komischste daran: Es ist gar keiner.«

»Ist das eine Drohung?«

»Selbstverständlich.« Aber der Funke war verglommen, durch harmlose Provokationslust ersetzt. Sie dachte an ihre Wohnung mit den überall verstreuten Sachen, dem Müll, der sich in der Küche türmte. Wie schön wäre es, zu verreisen, irgendwohin, wo sie niemand mehr fand. Stattdessen nickte sie bereitwillig, als er vorschlug, noch einen Sherry zu trinken und die viel zu frühe Tageszeit schien ihr eher dafür zu sprechen, als könne man Ungereimtes durch Ungereimtes aufheben.

»Schau dir den an. Glotzt hier die ganze Zeit rein!« In dem Bungalow gegenüber, auf einem Terrassenvorsprung, stand ein Mann etwa in Hardys Alter. Er hatte schulterlanges, gewelltes Haar, das nun fast sein Gesicht bedeckte, als er sich vorbeugte, um etwas in seinen Saatkästen zu prüfen. Sie wollte mechanisch einwenden, dass man von draußen kaum in dunkle Zimmer sehen könne, da hatte er schon das Fenster aufgerissen und grüßte schroff herüber. Der andere antwortete etwas, aber der Morgenwind zerpflückte seine gutgelaunte Erwiderung.

»Die was?!« Hardy strich sich durchs Haar. »Nee, lass mal! Sehe ich aus wie ein Öko-Spinner?« Er ergänzte noch etwas Herausforderndes, woraufhin der Langhaarige lakonisch konterte, und sie spielten ein kleines Wort-Pingpong in der taufeuchten Morgenluft.

Aufgeheitert wandte er sich wieder dem Rauminneren zu: »Wollte mir Mungosamen andrehen, der verrückte Kerl!« Er lachte nun fast glücklich, wie ein Reisender, der am Ende seiner Expedition vertrautes Ufer erblickt:
»Hast du seine Haarmatte gesehen? Irgendwelche bleiben immer übrig!« Andere wieder kehrten niemals zurück. Wie ein Schattengeschwader kamen solche Gedanken: »Ich muss gehen.« Er hob ihr Kleid auf, das vom Stuhl gerutscht war und reichte es ihr an. Ein Schuh lag noch unter dem Bett, sie angelte mit dem Fuß danach: »Wie heißt du eigentlich weiter?« Hardy schlüpfte in eine schmale, graue Jacke: »Kramer.«

»Fast so wie ein Junge, in den ich als Kind verliebt war: Gernot Krähmer.«

Hardy ging im Zimmer umher, die brandvergilbte Untertasse mit den Zigarettenstummeln in der Hand: »Und, was ist aus ihm geworden?«

Sie spürte leichte Übelkeit und hatte gleichzeitig ein schwebendes Gefühl: »Ich habe ihn aus den Augen verloren.« Wie in der Geschichte von dem Mann, der in einem Bild verschwand und dann niemals mehr zurückkehrte. Nur dass Gernot noch kein Mann gewesen war, als sie ihn zum letzten Mal sah. Sie sah Hardy fragend an:

»Vielleicht hätte ich ihn suchen sollen.«

»Ich kann’s dir nicht sagen. Ich hab’ ihn ja nicht geliebt.«

Musste er sich schon wieder eine Zigarette anzünden? Es stand ihm ganz gut, aber der Qualm steigerte ihre Benommenheit. Plötzlich wünschte sie, er würde etwas Höfliches tun: sie nach Hause fahren zum Beispiel.

Sie hatte die letzten Schritte zu Fuß gehen wollen und begann es schon zu bereuen, denn der Regen wurde stärker. Was Hardy wohl heute noch tat? »Gibt es jemanden?«, hatte sie sich gestern vorgetastet. »Du meinst meine Frau und die fünf Kinder?«
Es dauerte einen Moment, bis sein zynisches Lächeln ihr wieder Komfort bot. Dass sie aber auch alles für bare Münze nahm! Obwohl sie selbst gern neue Tatsachen schuf. Später gestand sie es ein und es kam einer Läuterung gleich: »Ich bin eine aufrichtige Lügnerin.«

»Das ist aber nicht sehr aufrichtig gegenüber deinen Lügen!« Ernst und streng, als wäre diese Inkonsequenz der eigentliche Moralverstoß.

In dem kleinen Villenvorort bewohnte sie das hässlichste Haus. Schlammfarben und leicht asymmetrisch hob es sich von den grün umwachsenen Bungalows ab wie ein blinder Fleck in einem Bild von Hundertwasser. Es war der äußere Umstand, der ihre Existenz zusammenhielt. Auch Klemens Gittes war so ein Umstand. Sie brauchte einen Freund in dieser kalten Welt, selbst wenn dieser Freund ein Feind war.
Sie kramte nach dem Schlüssel. Das Haus hatte sie von ihren Großeltern geerbt, die zeitlebens ein schlechtes Gewissen hatten, weil sie sie nicht lieben konnten. Früher hatte sie sich immer eine lange, dunkle Allee vorgestellt, auf der Kinderbäume wuchsen. Und Karolin und Manuel spazierten dort einfach entlang und pflückten sich eins. Bis sie Sandra hatten, ein eigenes Kind. Stets liebbehalten wollte man sie. Damals fand sie, dass es nach Abschied klang, aber so war’s natürlich nicht gemeint. Nur Manuel ging fort, verlor einfach das Interesse. Falsch, dann gab’s ja doch noch das große Happyend, aber nicht alle sahen das so. San zumindest – ihre Gedanken sprangen mit einem Schlag ins Wache: Auf der Treppe vor dem Haus blätterte Dickie Mommsen in einem Heft und aß Erdnussflips.
Die Mommsens passten besser in das Viertel als sie selbst: Im Handumdrehen hatten sie ihren Mietbereich in ein Einrichtungsparadies verwandelt. Die Möbel waren Schaustücke von Corbusier und Lloyd. Einziger Schandfleck in dem edlen Ambiente war Dickie, der sie um ihr Image aß.

»Kann ich mal vorbei?«

Er deckte den Flureingang fast ab. Die Tüte war ihm seitlich gerissen und ein paar von den Flips hatten sich über den unteren Treppenabsatz verteilt. Er erhob sich leicht keuchend, machte jedoch keine Anstalten, den Eingang freizugeben: »Hi, Sina!«
Ganz selbstverständlich übernahm er die vertrauliche Anrede, die sie seinen Eltern einmal angeboten hatte. Etwas voreilig, wie sie mittlerweile fand. Besonders, wenn die Mommsens wieder ein gediegenes Gartenfest gaben und nachts um eins noch unermüdlich heraufwinkten. Morgens dann Saskias Stimme im Flur, den Ehrgeiz dünn durch Humor kaschiert:

»Es waren wieder illustre Leute da!« So musste es wohl gewesen sein, denn Dickie wurde jedes Mal schon am Vortag ausquartiert. Abgeholt von seiner Großmutter, einer noch jugendlichen Frau, die ständig ein eingefrorenes Lächeln zur Schau trug. Sie schloss auf: »Wie kommt’s, dass du nicht im Haus bist?« Der Junge war eher ein Stubenhocker, nach der Schule sah er immer fern: Zombie-Videos, die Wände waren dünn genug, um sie teilhaben zu lassen. Er war ihr gefolgt ohne zu antworten. Auch gut, so konnte sie ihn leichter übersehen. Tütenrascheln. »Die ha’m mich ausgesperrt.« Fast wäre die Tür zu gewesen. Doch er hatte sich rasch an ihr vorbeigeschoben, gewandter als ihm eigentlich zuzutrauen war. »Meine Mutter würde nicht wollen, dass ich auf den nassen Stufen sitze.« »Warum nicht? Sie hat dich doch auch ausgesperrt.« Der runde Körper straffte sich: »Sie ist okay.«»Weil sie immer weg ist?«

Keine pädagogische Bemerkung. Zum Teufel mit den Mommsens, Dickie eingeschlossen. Er ging einfach nicht. Wohin auch: Der Regen hatte sich unvermutet in Graupelschauer verwandelt. Er konnte im Treppenhaus auf seine Eltern warten, war ihm das zuzumuten? Diese Schwermut in seinen Zügen, komisch nahm sie sich aus in dem Jungengesicht: »Ich bin gern allein, ist gemütlicher.« Er durchforstete die Tüte nach dem letzten Flip. »Na, dann können wir ja jetzt lange warten!« Sie erschrak selbst über ihren barschen Unterton. Resigniert schob sie ihm die Fernbedienung zu: »Ich nehme ein Bad. Wenn du Hunger hast, hol’ dir ruhig was aus der Küche.« »Hab’ ich aber nicht.« Es klang beleidigt.

Über der Badewanne drehte sie den Heißwasserhahn wieder zu, das Bad konnte warten. Sie legte ihre Kleidung ab und schlüpfte in einen Hausmantel aus Satin. Durch den atembeschlagenen Spiegel sah sie in ihre geweiteten Pupillen. Nichts passiert uns. Konnte man das versprechen? Doch ihr Blick blieb vernebelt. Aus dem Nebenzimmer drang die Erkennungsmelodie einer Serie, Dickie schien in seinem Element zu sein. Sie tat es ihm gleich und ließ sie sich mit dem Programmheft aufs Bett fallen. Der kleine Nachttisch-Bildschirm flimmerte kurz: ›Sie sind ein schlauer Kerl, sogar ihr Lächeln ist krumm‹, sagte Jean Harlow zu Clark Gable und ihr Wasserstoff-Haar leuchtete. Vielleicht rief Hardy ja nochmal an. ›Was machen Sie, wenn ich’s versuche‹, fragte Gable. Blickabtausch über ein Bügelbrett. ›Ich drück’ Ihnen dieses heiße Eisen direkt in die Visage.‹ Ihr Auge tief in seins gesenkt. Gleich würde er sie trotzdem küssen, wie es das Drehbuch verlangte.

Es war fast eins. Mittags aßen die Mommsens meistens zu Hause, hoffentlich machten sie heute keine Ausnahme. Aus dem Wohnzimmer schallte mechanisches Gelächter, eine Sitcom hatte begonnen. Dickie schien nicht wählerisch zu sein, das hatten sie gemeinsam. Im Kühlschrank musste noch Krabbenpizza sein, kalt schmeckte sie ebenso gut. In der Küche nahm sie Cola aus dem Eisfach, vielleicht tröstete ihn das. Nicht, dass ihr besonders daran lag, aber sie wollte nicht die Kinderfeindin herauskehren. Nur ein kleiner Zeitsprung und man würde sagen – sie verlor den Faden und war dankbar dafür. Dickie saß noch genau, wo sie ihn verlassen hatte. Mit dem Rücken zu ihr, achtete nicht auf die Show, starrte nur so vor sich hin. Sie trat näher und sah, dass er Fotos in einem Heft betrachtete.

Tänzer vielleicht, in verrenkten Positionen. Trugen sie fleischfarbene Trikots? Plötzlich verstand sie. Sie verharrte reglos auf dem Fleck. Im Hintergrund flimmerte die Show weiter. Bald ausgelesen, Dickie? Sie umklammerte immer noch die kalte Cola, nun entglitt ihr knirschend ein Stück Flaschenhals. Da drehte er sich endlich herum. Röte kroch ihm den Hals hoch:

»Ich hab’s nur gefunden, ehrlich!« Sein Kehlkopf trat bereits ein wenig vor. »Pack’s weg!« Was denn, Sina, tu doch nicht so!

Draußen Motorengeräusch und Türenschlagen. Familie Sonnenschein kam auf ein Häppchen heim. Feldsalat und Austernpilze, japanisches Essen auf kleinen Spießen: ›Oh bitte, Frau Schulz: Sie können doch später abräumen!‹ Wenn sie weiter aus dem Fenster guckte, würde sie mitbekommen, wie Saskia sich durch den eisigen Wind zur Haustür kämpfte, eine Wetterschutz-Grimasse ziehend. Dickies Finger hielten immer noch das Pornoheft, er sah wie blind zur Tür: »Ich bin nicht so!« Das sind wir nie, Dickie. Doch dann führt eins zum anderen. Da ging er fort, blass wie ein Geist. Stolperte hinaus, aber ganz geräuschlos. Vielleicht war er nur ein Gedanke und all die anderen auch. Vielleicht war dies hier ein Traum und das damals die Wirklichkeit: eine, die sie absurder Weise wieder und wieder durchlebte. Sie sank in einen Sessel, stützte das Kinn auf die angezogenen Knie. Natürlich, später kam Paris und all die wahrhaft wichtigen Menschen und ihr Leben begann. Aber es hatte begonnen, bevor es beginnen konnte: an einem dunstigen Winternachmittag vor über zwanzig Jahren, dem letzten vor Aschermittwoch …

»Mach’ dir nichts draus!« Sina wagte kaum aufzusehen, aus Furcht, das Traumbild könnte zerreißen. Gernot schlenderte neben ihr her. Und sie waren allein! Gemeinsam gingen sie um den Häuserblock, in den Augen die Lichter des kalten Frühlingsabends. Durch den Hottentotten-Wald, wie sie als Kinder den verwilderten Bezirk hinter dem alten Sportplatz genannt hatten, der halb eine Müllkippe war. Denn sie machten dort täglich nützliche Funde wie eine alte Sitzgarnitur, die ihr Hauptquartier wurde.
Bis auf die zirpenden Grillen war es still. Sina atmete den Unkraut-Duft der wuchernden Pflanzenwelt, die sich verschwenderisch über die zugeschütteten Kuhlen ausbreitete.
Es war noch hell genug, um den glutroten Klatschmohn zu sehen, der nun in dem schwindenden Licht blasser leuchtete. Dann kamen sie an den wilden Brombeersträuchern vorbei, wo sie einst mit diebischer Freude dutzende davon gesammelt hatte, um stolz mit ihrer Beute heimwärts zu ziehen. Nun waren sie wieder unreif, schienen ihrer Blütezeit erneut entgegen zu dämmern. Ein Steinvorsprung lud zur Rast ein und sie konnte Gernots Profil von Nahem betrachten: »Sie wollte dich gar nicht gehen lassen.« Konnten Stimmen streicheln? Wenn ja, hatte ihre gerade zaghaft sein Gesicht berührt.

»Weil die was von mir will.«

Von einer kleinen Anhöhe neigten sich ihr bleiche Kornnelken entgegen. Man musste sie sich nur umgestülpt vorstellen, dann ähnelten sie den Ballkleidern tanzender Elfen.

»Was will die denn immer so?«, fragte sie, um das Gespräch in Gang zu halten.

»Was weiß denn ich!«

Gernot warf einen flachen Stein über das Feld, weit weg, man konnte ihn nicht fallen sehen: »Die hat halt ’ne Menge Probleme. Ihr Mann ist ausgezogen.«

»Sie lassen sich scheiden?«

»Er will das Sorgerecht, klagt auf Verletzung der Aufsichtspflicht.«

»Weil Carmen Hacki geküsst hat?«

Gernot grinste verschämt: »Die sind viel weitergegangen.« Er stocherte mit einem Stock kleine Löcher in die weiche Erde: »Carmen hatte eine Abtreibung.«

Sina fühlte etwas wie Bewunderung oder Respekt für Carmen, vorzeitig aufgenommen in die Welt der Erwachsenen. Der Frühling schien sein Gastspiel vorerst beendet zu haben. Von der Stadt zog ein schneidend kalter Wind herüber. Hatte sie den Jeansblazer an der Garderobe hängen lassen? Morgen musste sie ihn abholen. Gernots Stock zog schräge Muster in den Sand:

»Geschockt?«

»Ich hätt’s nur nicht gedacht.«

Sie verfolgte sein Spiel, das nun abbrach: »Deshalb wurden wir vorhin rausgeschmissen! Es macht bestimmt keinen guten Eindruck, wenn Frau Andergast solche Partys erlaubt.« Sie dachte an die ultraviolette Glühbirne, die Licht und Schatten verwandelt hatte. Gernot machte eine wegwerfende Handbewegung: »Na und: Sie lässt ganz gern die Puppen tanzen. Solange sie die Fäden in der Hand behält.« Er war zurückgeblieben, um sein Mofa über den Graben zu heben, der sich nun wässerig vor ihnen auftat. Angelaufene Plastikbecher schwammen auf seiner Oberfläche. »Warum schiebst du es?« Sina hoffte intensiv, dass es ihretwegen geschah, doch er murmelte nur etwas von einer gerissenen Antriebskette. »Woher hast du’s eigentlich?« Sofort bereute sie die neugierige Frage. Er warf ihr einen berechnenden Seitenblick zu: »Frau Andergast hat’s beschafft.« Beschafft? Ihre Hand streifte im Vorbeigehen einen Brennnesselzweig.

»Ich hab’ ihr dafür den Geräteschuppen aufgeräumt.« Doch seine Worte hingen etwas zu schwer in der Luft. Er warf wieder einen Stein: »Sie faselt mir ständig die Ohren voll von ihrem toten Sohn. Erzählt in einem Stück, wie ähnlich ich ihm sehe.«

Die Erinnerung an die Szene am Rande der Karnevalsfeier bedrängte Sina plötzlich: »Wollte sie dir deshalb seine Sachen anziehen?« Halbnackt hatte Gernot vor dem Eichenschrank gestanden, dessen knarrende Tür sich bald darauf auch für sie öffnen sollte.

»Nee, die hab’ ich von mir aus angezogen. Fand’s mal ganz witzig.« Wütend zog er mit dem Absatz eine tiefe Furche. »Weshalb ich dich eben eingeholt hab’: Was war denn mit Chrissie?«
Weshalb ich dich eingeholt hab’! Unbewegt blickte sie auf die Mulde, die sein Schuhabdruck hinterlassen hatte. Er sah nun verlegen aus: »Warum ist sie so früh gegangen?«

»Warum fragst du sie nicht selbst?« Spröde war ihre Stimme. Sina fühlte, wie sich eine trotzige Starre in ihr ausbreitete. Sie kramte einen Fettstift hervor und strich sich über die aufgesprungenen Lippen, die nun salzig schmeckten.

»Hey, heulst du etwa?« Gernot lehnte das Mofa an einen Baum und hielt ihr ein schief gefaltetes Papiertaschentuch hin: »Du bist in Ordnung, Sina. Das finde ich wirklich.« Sein Arm brannte auf ihren Schultern. Sie hätte ihn gern abgeschüttelt, aber sie wollte sich nicht noch mehr blamieren. Da strich ihr plötzlich eine ungeschickte Hand eine verklebte Haarsträhne weg und Gernots weicher, großer Mund streifte ihren zu einem schroffen Kuss.

»Du hast mich doch gern!«, flüsterte sie fieberhaft in die Abendstille. »Nicht wahr, du liebst mich!«

Er hatte sie wieder losgelassen: »Was redest du denn da!«

»Es ist dir nur peinlich vor den anderen. Weil ich noch keinen – zu kindlich bin, weil ich das blöde Kostüm anhatte, weil ich nie richtig braun werde, weil …« Sie hatte wieder zu schluchzen begonnen: »Sag’ wenigstens mir, was du vor den andern nicht sagen kannst!«

Er starrte auf den Boden und zerdrückte mit dem Fuß Löwenzahn, dessen zermalmte Blütenköpfe sich nun pulverisiert über den Boden ergossen: »Du bist ja hysterisch.« Eine tränennasse Pause entstand, in der er nach dem Lenker seines Mofas fasste und umständlich etwas am Griff prüfte: »Ich steh’ nur auf Chrissie. Ich kann an kein anderes lebendes Wesen mehr denken.«

Chrissie war schön. Komisch, dass ihr das nie aufgefallen war. Sie hatte sich ganz langsam zu einem schönen Menschen entwickelt, wie ein Negativ, das in der Entwicklerlauge immer klarere Konturen bekommt. Der breite Mund, früher als Kuhlippe verspottet, war plötzlich zu einem Pluspunkt geworden. Mit silberfarbenem Lippenstift überdeckt, wirkte er weniger verletzlich und gab ihrem kurznasigen Kindergesicht eine sinnlich-wissende Note. Das Beste waren die weißblonden, glatten Haare, die niemals langweilig wirkten. Beim Tanzen umwirbelten sie ihre rückenfreien Tops und sorgten auch sonst für Bewegung. Sie wollten zurückgeschüttelt, zur Seite gestrichen, aus der Stirn gekämmt und am Pony zurechtgezupft werden. Obwohl sie blond war, wurde Chrissie schnell braun. Ihre Haut nahm dann einen warmen Goldton an, der ihre grüngesprenkelten Augen leuchten und die Zähne beim Lachen aufblitzen ließ. Sina sah Chrissie lachen, als Gernot ihr den Schlapphut abriss und schloss wieder die Augen, um das Spukbild zu vertreiben. Neulich hatte er Chrissie noch verleugnet. Aber dieses schöne Neulich, als sie und Gernot im Bistro standen und er sie fragte, ob der Typ ihr lästig sei, war vergilbte Erinnerung. Sina dachte wieder an ihr Gespräch auf der Müllhalde, sein schroffes Liebesbekenntnis an Chrissie und versuchte, sich zum Abgewöhnen seinen neuen Haarschnitt vorzustellen: Prinz Eisenherz, ha.
Was, wenn er nur mit Chrissie vorliebnahm, weil diese erfahrener war? Zögernd fuhr Sinas Hand unter das Nachthemd und betastete die spröde glatte Haut darunter. War es nur Einbildung, oder begann sie sich bereits an den richtigen Stellen zu wölben? Ihr Herz schlug heftig und sie setzte das Streicheln fort. Sie dachte an Gernots Stimme: »Ich hol dich um drei Uhr ab!« Weich hatte sie geklungen, aber auch bestimmt. Sina zog die Hand aus den aufgewärmten Laken und wälzte sich zur Seite, um zu beten: Sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund! Sie fuhr fort, bis ihr kein Gebettext mehr einfiel und sich nur noch Bruchstücke aneinanderreihten. Bevor sie einschlief, wurde ihr noch verworren bewusst, dass es nun nicht mehr Gott war, zu dem sie betete, sondern Gernot.

Schattenparty

Psycho-Thriller & Coming-of-Age-Roman zugleich ist »Schattenparty« ein Tempo geladener Trip in die Abgründe einer Teenagerseele. Die Handlung kreist um verbotene Spiele, frühreife Exzesse, Intrigen und Mord.

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